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Bildschirmzeit ist nicht das Problem…

Bildschirmzeit ist nicht das Problem…

Ich habe gerade einen Beitrag in den ZDF heute Nachrichten über das Thema “Distanzunterricht” und “Bildschirmzeit” gesehen. In diesem Beitrag wurde erwähnt, dass das Leben dieser Schüler der 11. Klasse sich jetzt zum größten Teil online abspielen würde und der Anstieg der täglichen Bildschirmzeit um eine Stunde sei enorm. Aus diesem Beitrag ergab sich eine hitzige Diskussion mit meiner Freundin darüber was die Unterschiede zwischen digitalem und analogem Lernen seien und warum welche Form besser ist.

Was machen andere 17-jährige am Bildschirm?

Der erste Gedanke der mich ereilt hat, war der an eine Freundin von mir, welche die Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht hat. Sie hat diese Ausbildung mit 16 begonnen und hatte daraufhin einen recht “knackigen” Arbeitstag – vor allem vor dem Bildschirm. Im Büro eines Logistikanbieters sind bei einem 8-stündigen Arbeitstag durchaus 6-7 Stunden reine Bildschirmzeit. E-Mails schreiben, Termine planen, Dokumente erstellen und eben alles tun, was zur “Arbeit” dazu gehört. Nach der Arbeit geht es dann nach Hause und dort verbringt sie, wie viele andere in Europa auch, Zeit mit dem Fernseher und dem Smartphone.

So kommen wir, nach einer gemeinsamen Überschlagrechnung, auf rund 9 Stunden am Tag, welche vor dem Bildschirm verbracht werden. Mit 17 Jahren. Das aber nur als Referenzpunkt für die weitere Diskussion.

Lernen ist aber etwas anderes als Arbeiten.

Das nächste Argument meiner Freundin ist vollkommen nachvollziehbar. Ich bemerke es ja auch bei mir selbst: wenn man arbeitet, schafft man Wissen. Egal ob es eine Prozessanweisung oder ein Arbeitsvertrag ist, welchen man in dieser Zeit am Bildschirm erstellt, all dies ist Erstellen von Inhalten. Im Gegensatz dazu saugt man in der Schule oder der Uni vor allem Wissen auf. Das ist eine komplett andere Art der Hirnaktivität und fordert auf einem anderen Niveau. Ob es nun anstrengender ist Wissen aufzunehmen, anzuwenden oder Wissen zu schaffen ist eine ganz andere Frage und wahrscheinlich von Typ zu Typ unterschiedlich. Es gibt hier aber sicher auch ein gewisses Level an Gewöhnung was aufkommt und einem deshalb die eine oder andere Form einfacher erscheinen lässt.

Nun führen wir einen weiteren Baustein aus meiner Erfahrung ein: ich habe ein absolviertes Studium und einen Führerschein. Beides sind Elemente, welche mir zum jeweiligen Zeitpunkt enorm wichtig waren und weshalb ich bei beiden Theorie-Sessions sehr motiviert war. Aber hier kommen wir zum nächsten Knack-Punkt hin: die Wissensvermittlung. 

Mein Fahrlehrer war ein absolutes Genie was das Thema Entertrainment angeht. Er ist ehemaliger Radio-Moderator, eine Bühnensau und hat sich auch als Magier versucht. Ich habe es hier geschafft freiwillig mehr Stunden im Theorie-Unterricht der Fahrschule verbracht als es nötig gewesen wäre. Einfach weil Christoph es immer geschafft hat uns in seinen Bann zu ziehen. Heute muss Christoph seinen Theorie-Unterricht online abhalten und er schafft das was viele Lehrer aktuell nicht schaffen: überzeugende Wissensvermittlung im digitalen Raum! Er hat in ein Multi-Kamera-Setup investiert, hat seine gute Seele als Assistenz im Chat um sich voll auf die Lehre zu konzentrieren und der Unterricht fühlt sich eher wie eine TV-Show als Unterricht an. 

“Wenn der Unterricht zu Ende ist, habe ich oft das Problem, dass die Schüler weiter in der Session bleiben und gar nicht gehen wollen. Sie sind so gebannt von der Show, dass sie bleiben möchten und wir oft noch eine halbe Stunde oder so nach dem Ende noch miteinander reden, uns über Geschichten aus dem Fahrschul-Alltag oder dem Leben der Schüler unterhalten. Es ist fast so wie zuvor in der Fahrschule wo der “harte Kern” dann immer noch sitzen geblieben ist um bei einem Kaba noch Geschichten zu hören.”

Und hier spannt sich wieder der Bogen zurück zu meiner Studiums-Zeit: ich hatte die Vorlesung “Managemententscheidungen in Theorie und Praxis” bei meinem Professor Andre Schmutte. Die grundsätzlichen Inhalte waren jetzt nicht weltbewegend – es war interessant, aber nichts wofür man die Vorlesung ein zweites Mal anhören würde. Ich habe diese Vorlesung in 4 verschiedenen Semestern besucht. Jedes Mal bei Andre, drei Mal nachdem ich das Modul bereits bestanden hatte. Es waren nicht die Inhalte, die mich dort hin gezogen haben, es war die Wissensvermittlung, die mitreißende Art und einfach die schiere Liebe zum Thema welches mein Professor dort an den Tag gelegt hat. Und auch hier saßen wir, der “harte Kern” nach Ende der Vorlesung meist noch 60 Minuten lang mit unserem Lehrer im Raum, haben über spezielle Anwendungen der Inhalte der Vorlesung und die Erfahrungen aus unseren Berufserfahrungen dazu berichtet, diskutiert, teilweise auch gestritten. Es war ein Traum diese Vorlesungen zu besuchen und ich habe mich an meine Zeit in der Fahrschule erinnert gefühlt. 

Anders war es im Modul Steuerlehre. Man kann von dem Fach halten was man will, meins war es einfach nicht. Ein großer Teil mag aber auch der Lehrstil gewesen sein: wenn man Stunde um Stunde Frontalunterricht mit dem Entertainment-Faktor einer Pendeluhr hat, dann konnte man sehen wie selbst der eifrigste Student irgendwann nicht mehr die Vorlesungsunterlagen auf seinem Laptop offen hatte. 

Es liegt also nicht an Face2Face oder online?

Ein weiteres Beispiel welches mich fasziniert ist meine Freundin. Sie gibt sehr erfolgreich Nachhilfe für Schüler in verschiedenen Disziplinen ihres Studiums – seit letztem Jahr teilweise online, unterdessen 100% virtuell. Und es funktioniert. Warum? Weil sie sich ein Setup zusammengestellt hat, mit dem sie enorm erfolgreich und einfach das Wissen exakt so vermittelt wie ihre Schülerinnen es brauchen. Und das ist erstaunlich simpel: ein Tablet, ein Kopfhörer mit Mikrofon, eine gute Internet-Verbindung und Zoom.

Sie hat aber einen großen Vorteil: sie hat keine Hemmungen es einfach auszuprobieren. 

Viele Professoren und Lehrer scheitern gerade auf ganzer Linie an der Online-Lehre, weil sie es nie gelernt haben und Hemmungen haben neues auszuprobieren. Als damals ein Lehrer an meinem Gymnasium Wechselunterricht mit Aufgaben fürs Selbststudium eingeführt hat, war das weltbewegend… und alle Kollegen haben ihn belächelt. 50% seiner Schüler konnten intensiv Face2Face von ihm in der Schule beim Anwenden des Wissens betreut werden, während die anderen 50% online Wissen angelesen, angehört und in Videos vermittelt bekommen haben. Zum Zuhören braucht man keine Live-Session, falls es Fragen bei der Anwendung gibt aber schon. 

Er war seiner Zeit definitiv voraus und hätte man ihn mit seinem Exempel führen lassen wäre (zumindest mein Gymnasium) wesentlich weiter in der Digitalisierung gekommen. Aber man glaubt noch immer daran, dass Lehre nur Face2Face funktioniert. 

Aber das stimmt einfach nicht! Klar: Es gibt gewisse Elemente, wie zum Beispiel das Schreiben mit der Hand in der ersten Klasse der Grundschule, welches online nicht funktioniert. Auch zum Beispiel Sport-Unterricht wird schwierig. 

Aber viele Elemente könnten das Lernen auf ein neues Level heben, wenn es von Schulen, Lehrern, Studierenden und Dozenten angenommen werden würde. 

Identifiziert die “Entertrainer” in euren Reihen! Gebt ihnen den Raum den sie brauchen und lasst sie einfach mal machen! 

Was bedeutet das nun für das Thema Distanzunterricht und den Rückkehr zur “Normalität”?

Eine Komponente haben wir in diesem Beitrag noch nicht beleuchtet: das soziale Leben. Hierzu gibt es große Forschung und viele verschiedene Meinungen. Es gibt aber sehr erfolgreiche Wege wie soziales Leben auch virtuell funktionieren kann. Vor wenigen Tagen haben wir einen großen Kick-Off-Workshop abgehalten, komplett virtuell. Wir haben mit einem gemeinsamen Frühstück begonnen, jeder Mitarbeiter hatte eine identische Snack-Box vor sich stehen und konnte so das gleiche Erlebnis haben. Dann ging es in einem multimedialen Mix weiter, mit Gruppenarbeiten, “Stillarbeit” mit der Möglichkeit jederzeit “aufzustehen” und Fragen zu stellen. Es fühlte sich an als würden wir alle gemeinsam in einem Großraumbüro oder einem Klassenzimmer sitzen – während wir teilweise mehr als 400 Kilometer zwischen uns liegen hatten. Klar: so ein Format braucht Energie und Zeit. Wir haben an diesen Tagen, mit diesem Format, aber eine enorm viel höhere Performance erreicht als wir sonst in diesen Tagen, jeder für sich allein und mit geschriebenen Nachrichten in Slack oder gar per Mail geschafft hätten. Es geht also nicht nur darum einfach die Vorlesungen, Unterrichtsstunden und Trainings 1:1 online abzuhalten. Es braucht einen komplett neuen Aufbau, einen cleveren Technik-Einsatz und vor allem eines: Bereitschaft zum Wandel. 

Und wenn diese Komponenten zusammen kommen sehe ich eine tolle Zukunft vor uns liegen, mit besseren Betreuungsquoten, mit Lehrern die sich um Kleingruppen live kümmern können und nicht 30-40 Schüler vor sich sitzen haben müssen, mit Trainings die Spaß machen und nicht zu tief in den Arbeitsalltag einschneiden, mit Schul- und Trainingszeiten die sowohl Wissensvermittlung als auch eine Basis für soziale Interaktion bieten – aber das Umdenken dafür ist leider noch einen weiten Weg entfernt. 

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